Leo Zelada im Gespräch mit Eugenia Rico:
6. Mai 2010
Bei dieser Gelegenheit führte Leo Zelada ein Interview mit Eugenia Rico, die nicht nur eine der großen europäischen Autoren von heute ist, sondern auch die beste spanische Schriftstellerin ihrer Generation.
Sie verfügt über eine einzigartige und äußerst vielseitige Erzählwelt. In ihrer Arbeit zeigt sie eine eindrucksvolle Erzählkraft, verbunden mit einer umwerfenden Schönheit in ihrer Prosa.
Sie ist Trägerin des Premio Azorín und kam in die Endrunde des Premio Primavera, sie erhielt den Premio de Novela Ateneo de Sevilla und den Premio Espiritualidad.
Auszüge aus dem Gespräch:
1.- Ich mag die Verbindung von Religion und Volkssprache in deinen Romanen, so wie einen bizarren und gleichzeitig wunderschönen Stil. Kannst du etwas über dein fiktives Universum erzählen?
A: Ein Yale-Professor war von meinen Büchern begeistert, weil es ihm schien, dass ich keine typisch spanische Schriftstellerin war. Wie Angel Basanta dachte er, ich hätte in unserem Land den europäischen Roman eingeführt, der die Strömungen der europäischen Literatur mit der überwältigenden Kraft der spanischen Sprache verbunden hatte. Ich war immer verliebt in die Sprache, in ihre Tausenden von Nuancen, die in jedem Wort wie der Schimmer eines Diamanten zu finden sind. In meiner Literatur versuche ich, dieses magische Schwert zu schärfen und die Sprache auf natürliche Weise fließen zu lassen. "Ehrlich und gut platzierte Worte", wie Cervantes sagte, aber auch Schwerter wie Lippen. Wie eine Balletttänzerin muss ich die Muskeln der Sprache trainieren. Dann, wenn der Leser und ich zusammen den dreifachen Salto wagen, muss es einfach erscheinen, und so, als ob es keine andere Möglichkeit gäbe. Einfachheit ist vollkommener als Komplexität, wenn sie stimmig und bedeutungsvoll ist. Ich bin Anhängerin des Konzeptismus [Stil der präzisen Formulierung und der sinngebenden Verbindung von Wort und Idee], nicht des „Kulteranismus“ [schwülstiger, ausschmückender Stil]. Ich hasse den Barock und glaube dass meine Geschichten mehrere Lesarten enthalten sollten, die nicht unbeweglich bleiben dürfen, sondern sich je nach Betrachter verändern, wie das Meer oder die Gemälde von Hopper. Es wird gesagt, dass ich die "interaktive Literatur“ geschaffen habe und ich versuche, dass meine Bücher Kunst-Werke sind, in denen der Leser die Lücken füllt, die ich gelassen habe, und somit selbst zum eigentlichen Protagonisten wird. Es gibt kein Videospiel, das mit der absoluten Macht konkurrieren kann, die einem gute Literatur zu geben vermag.
Ich spiele mit dem Stil und interessiere mich ebenso für die Umgangssprache wie für die hohe Philosophie, gleichermaßen dafür, eine gute Geschichte zu erzählen und eine neue Erzählweise zu finden. Ich möchte die perfekte Seite schaffen und den vollkommenen Roman, der alles erzählt, und die ganze Welt in einen Augenblick sperren, wie es nur ein Blick oder ein Gedicht zu tun vermag.
2.- Die spanische Literatur ist vom Realismus durchzogen, vielleicht rühren daher ihre formalen Beschränkungen. Du dagegen suchst die formale Innovation. Wie bist du auf diese andere Art, Literatur zu schaffen und mit dem Kanon des realistischen Romans in Spanien zu brechen, gekommen?
A: An der Uni habe ich eine Bewegung namens "Atlantische Poesie“ gegründet; ich komme aus der keltischen Tradition des Nordens, die näher an der ästhetischen Realität der angelsächsischen Welt ist als am kastilischen Realismus.
Von Unamuno bis Cunqueiro oder Torrente Ballester, die Schriftsteller des Atlantiks erleben diese Wirklichkeit, in der der Nebel das Leben und die Literatur umgibt. Der Feuchtigkeitsgehalt sorgt dafür, dass man die Grenzen der eigenen Haut nicht ausmachen kann, und das öffnet den Weg für unerwartete Wahrnehmungen der Realität. Unter dem Regen des Nordens ist es schwierig, realistisch zu sein.
Darüber hinaus ist die Literatur eine Suche. Ich stürze mich ohne Fallschirm auf jedes neue Buch, wenn es keine Gefahr gibt, wenn es keine Suche gibt, dann kann es auch kein Wunder geben. Das Leben ist nicht realistisch und Bücher können es auch nicht sein. Das reine Sittengemälde ist eine Last, die uns daran hindert zu fliegen, und das Fliegen ist eine der ältesten und ursprünglichsten Sehnsüchte der Menschheit.
3.- Kundera spricht in seiner Theorie des Romans von zwei Arten von Romanen, einmal dem linear-kartesischen und einem anderen, mit diskontinuierlicher und fragmentarischer Struktur. Können wir Sie dieser letzten Form des Schreibens zuordnen, in der die kreative Freiheit das wichtigste ist?
A: Ich bewundere den Roman des neunzehnten Jahrhunderts, das große Jahrhundert des Romans, aber 200 Jahre später können wir nicht einfach weiterhin schlechte Kopien der großen Romane des neunzehnten Jahrhunderts machen, jetzt müssen wir neue Wege suchen, und, mehr als neue Wege, würde ich sagen, müssen wir gepflasterte Straßen finden. Ich bin Hegelianerin. In Hegel ist alles enthalten. These, Antithese und Synthese. These: der Realismus des neunzehnten Jahrhunderts, heute überholt, hat aber große Werke geschaffen. Antithese: die Avantgarde, experimentelle Romane, mit Kafka als großem Revolutionär. Das hat neue Wege eröffnet jedoch bis auf wenige Ausnahmen kaum große Werke geschaffen und der experimentelle Roman hat sich letztendlich von seinen Lesern entfernt, die sich dann in die Arme schlechter Kopien der großen Romane des neunzehnten Jahrhunderts warfen: die historischen Pseudoromane die unsere neuen Romanzen sind. Zusammenfassung: Das 21. Jahrhundert muss bei der formalen Suche bleiben - aber mit der Komplizenschaft des Lesers. Wir müssen dem ewigen Spiel der Literatur neue Bedeutung geben. Dies ist der "neue Roman", der weder erstellt noch zerstört, sondern umwandelt. Der Roman, den ich schreiben möchte. Man hat über mich gesagt, dass ich Romane "interaktiv" schreibe, weil sie Löcher lassen, die der Leser füllen muss. Der Leser ist der eigentliche Detektiv meiner Geschichten und er soll die Orgie der Sprache genießen.
4.- Du bist ein Mensch, der viel gereist ist, und wohnst jetzt in Madrid. Allerdings spüre ich bei dir eine Art Selbst-Exil. Erzähl mir von deinem inneren Exil.
R: Nabokov sagt, der beste Teil der Biographie eines Schriftstellers ist nicht die Geschichte seiner Abenteuer, sondern die Chronik seines Stils. Mein Leben steckt in meinen Romanen und gleichzeitig sind meine Werke die Masken, hinter denen ich mich vor der Realität verstecke. Sie sind eine Maske, die meinen Blick von der Welt trennt. Und die Welt ist aggressiv und ungerecht. Ich habe mich immer gefragt, wie ich mir den Luxus erlauben kann zu schreiben, während Kinder verhungern und ich das auch noch gesehen habe.
Aber ich glaube an die heilende Kraft des Schreibens; ich bewundere Schriftsteller die jeden Tag eine Reise ins Unbekannte beginnen und doch die ganze Zeit in einem Raum sitzen. Pascal war derjenige, der den bemerkenswerten Gedanken fasste, dass uns alles Unglück nur erreiche, weil wir unfähig sind, still in einem Raum zu sitzen. Der wahre Schriftsteller reist immer, auch wenn er ruhig bleibt. Und auch die Leser reisen durch die Landschaften und das Innere der Figuren. Der Schriftsteller ist immer ein Fremder, ein Fremdling überall und auch in sich. Es ist dieser neue Blick, dieses Erstaunen, die Fähigkeit, die Dinge anders zu sehen, die ihn zu einem Schriftsteller macht. Eben diese Kraft, die ihn zu einem Flüchtling der Einsamkeit macht, zu einem Verbannten aus der Welt der Eitelkeiten, einem Suchenden.
5.- Was halten Sie vom zeitgenössischen europäischen Roman?
R: Lorca sagte, wenn die Leute in Spanien zu essen hätten, wären sie alle Schriftsteller. Ortega y Gasset warnte in „Der Aufstand der Massen“ vor den Gefahren des Marketings, das jetzt offensichtlich in die Literatur vordringt. Wesentlich häufiger als empfehlenswert wäre, entscheiden Kaufleute und nicht Gelehrte, was wir zu lesen haben. Und dennoch wurde noch nie so viel und so gut geschrieben wie heute. Viele Autoren schreiben korrekt, aber nur wenige haben wirklich etwas zu sagen. Man gewinnt den Eindruck, dass in Europa schon alles gemacht wurde, festgefahren ist, gegenüber den Strömungen von Kraft und Erneuerung, die aus Amerika und Afrika kommt, einer aufstrebenden Welt mit Bedarf an neuen Erzählweisen. Ich glaube an die Existenz einer europäischen Literatur, bewundere sehr junge aber auch sehr interessante Autoren, wie Daniel Kehlman in Deutschland, oder Nicolo Ammaniti in Italien, ich mag auch Hanif Kureishi in Großbritannien. Irgendwo im Schatten nimmt etwas Neues Gestalt an, aber noch ist es dunkel. Für seinen Koch ist niemand ein Held, für seine Zeitgenossen ist niemand ein Genie. Der große Verwalter des Kanons ist die Zeit. Aber die Europäische Literatur wird uns noch große Überraschungen bieten.
Die Generation von 98 (1898) definierte sich ausgehend von der Katastrophe von Kuba, und die Generation von heute hat nur noch den Wunsch gemeinsam, in den Medien zu erscheinen. Bis jetzt haben sie noch keine erinnerungswürdigen Werke hinterlassen, aber zumindest haben sie die trüben Wasser der kommerziellen Literatur in Bewegung gebracht. Ich fordere den Autor fernab der Medien, wie Thomas Pynchon, wie Sanchez Ferlosio. Ich fordere den Schriftsteller, der fern der äußeren Welt arbeitet, eben nicht denjenigen, der sein Leben gibt, um im Fernsehen zu erscheinen. Wie Warhol sagte, jeder von uns wird fünfzehn Minuten des Ruhms haben, nur wird es kein Ruhm sein, sondern TV-Müll.
6.- Du sagst, dass alle deine Bücher von einer zweiten Chance handeln. Könnte man sagen, dass der Begriff der Erlösung eine der wichtigsten Säulen deines Schreibens ist?
A: Meine Romane erzählen von Figuren, die Menschen sein wollen, denen der vorgebetete Weg des Glücklichseins nichts nutzt, Menschen die ihren eigenen Weg finden und erobern müssen, um glücklich zu sein. Auf dieser Suche müssen sie wiedergeboren werden. Wie eine Figur von Beckett sagen würde, das Schlimmste ist nicht tot zu sein, ohne es zu wissen, sondern das beunruhigende Gefühl, noch nicht wirklich geboren worden zu sein. Im Tod geboren werden, wiedergeboren werden im Leben. Oder wie Sie sagten - da eine meiner größten Leidenschaften seit jeher darin besteht, das Populäre und das Anspruchsvolle in Einklang zu bringen, Perogrullo mit Shakespeare zu verbinden, denn beide sind Autoren, die ich verehre - wichtig ist nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder nicht, sondern, es zu schaffen dass es ein Leben vor dem Tod gibt. Darum kämpfen meine Charaktere um ihre zweite, ihre dritte und sogar ihre fünfte Chance. Sie müssen in der Auferstehung geboren werden. Sterben und wieder auferstehen, jeden Tag, wie jeder von uns, darin unterscheiden sie sich nicht von den Menschen, die ich kenne. Aber das Wichtigste ist, wieder zu leben. Es ist schon viel über den Tod geschrieben worden, aber immer noch nicht genug über die Auferstehung.
7.- Du sprichst von der Literatur als einer Offenbarung, glaubst du, dass die Schöpfung in gewissem Maße eine Epiphanie ist?
A: Die Literatur ist die Religion, an die ich glaube, und die Epiphanie verstehe ich als diesen einzigartigen Moment der Offenbarung, in dem Zeit und Raum aufhören zu existieren, dieser flüchtige Augenblick, wegen dem wir schreiben, in dem das „Ich“ verschwimmt und wir in Kontakt mit dem kollektiven Unbewussten treten und die Geschichten finden, die geschrieben werden wollen, die Geschichten, die uns das Gefühl geben, dass sie schon immer da waren, auch wenn man sie zum ersten Mal hört. Alles, was ich schreibe, ist schon passiert oder passiert gerade oder wird noch passieren. Alles, was ich schreibe, ist wahr, auch wenn es nicht geschehen ist. Der Roman ist die Suche nach einer Epiphanie, nach einem Moment, der einem Leben und einem Werk Sinn gibt. Auf dieser Suche ist der Schriftsteller nicht allein, so wie Don Quijote von Sancho Pansa begleitet wurde, wie Sherlock Holmes seinen Watson brauchte; der Autor und der Leser gehen immer zusammen auf die Jagd nach der Epiphanie und es ist dabei absolut nicht klar, wer Don Quijote und wer Sancho ist, wer Holmes und wer Watson. Auch hier ist nichts wie es scheint.
8.- Wie fühlst du dich, wenn die Kritiker dich mit James Joyce und Virginia Woolf vergleichen?
R: Virginia hat uns allen gezeigt, dass wichtiger als ein eigener Raum eine formale Suche ist, die immer weiter geht. Von ihr lernte ich, dass die Figur (der Protagonist) der Gott des Romans ist und die Form ebenso wichtig wie der Inhalt. Form und Inhalt sind das gleiche, das ist eine sterile Diskussion: Die Form ist wie der Handschuh, der exakt auf den Inhalt zugeschnitten sein muss, das eine kann ohne das andere nicht existieren. Joyce schuf im Ulysses einen Katalog aller möglichen Prosa-Varianten und hat mich gelehrt, formal immer innovativ, zu bleiben, die Suche nicht aufzugeben und mich nicht mit einfachen Lösungen zufrieden zu geben. In Dubliners ist ihm mit „The Dead“ eine Erzählung gelungen, die mein Leben für immer verändert hat. Joyces Figuren sind größer als das Leben und retten die Welt mit einem Gähnen. Vor solchen Autoren kann ich nichts als grosse Bescheidenheit empfinden, sie sind meine Lehrmeister und die von Generationen von Autoren. Sie haben die Grenzen der Fiktion zu neuen Horizonten ausgedehnt. Das ist es, was jede neue Generation von Schriftstellern tun muss: versuchen, eine neue Grenze zu erobern. Die Worte sind ein Teleskop, um neue Planeten der Sprache zu entdecken; wenn ich einen neuen Mond oder auch nur einen Asteroiden erreiche, kann ich schon zufrieden sein. James Joyce und Virginia Woolf sichteten ganze unveröffentlichte Galaxien für den Roman.